Donnerstag, 4. Juni 2015

Sich selbst verwirklichen oder sich selbst verwirren


Izunia und Lukasz - für immer? Liebesschlösser in Krakau.
"Später möchte ich das ja auch alles, aber jetzt muss ich mich erst mal selbst verwirklichen." Hm, das klingt ziemlich unkonkret, da kann der Gesprächspartner nur ratlos mit dem Kopf schütteln. Panik vor dem Hausbau! Schockstarre beim Gedanken an Schwiegermutter-Besuche! Beim Gedanken an Kinder bleibt das Herz stehen! Bitte keine Pflichten. Bitte keine Einschränkung. Groß ist die Angst vor einem spießigen, langweiligen Leben. Alle scheinen froh zu sein, den konservativen alten Zeiten, in denen man lebenslänglich in einer vor Gott geschlossenen Ehe ausharrte, entkommen zu sein. Sich an eine Person binden? Ja, so vorübergehend, aber doch nicht längerfristig. Immer die gleiche Person küssen? Ein Bett teilen? Kein Sex mit anderen? Das ist doch uncool. Naiv. Das ist eine Horrorvorstellung! Wo bleibt da der Spaß? Das echte Leben? Die Bestätigung? Wo bleibt da die Selbstverwirklichung.

Ich bin wichtig, ich bin mir wichtig, ich bin Ich und ich bin einzigartig. Ja! Aber die Frage ist, was man damit anfangen kann. Am Ende sind wir so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass wir nicht mehr mitbekommen, wenn es den engsten Freunden schlecht geht. Was kommt nach dem ICH? Was ist neben dem ICH? Was braucht das ICH noch, außer dem Ich. Warum, für wen und für was möchten wir uns eigentlich verwirklichen.
Auf der einen Seite sind die Paare, die sich für eine feste Beziehung entschieden haben und die ihr Lebensmodell verbissen verteidigen. Sie schotten sich ab, treffen sich nur noch mit anderen Paaren, und wehe da trennt sich einer, dann ist der aber ein Verräter. Am sichersten ist es doch händchenhaltend mit dem Partner auf dem Sofa zu Hause zu sitzen! Bloß kein Risiko eingehen. Nicht, dass sich der andere noch umschaut. Auf der anderen Seite sieht man weit und breit pure Unverbindlichkeit, zahlreiche namenlose Sex-Partner und Alkohol. Das Gebot ist: Alles ausprobieren und so viel Spaß wie möglich haben! Vögeln bis zu Selbstverwirklichung.

Doch warum wohnen so viele junge Berufsanfänger noch in WGs, weil das so cool und lustig ist? Bestimmt nicht. In den meisten Anzeigen steht, dass Ruhe erwünscht ist und Partys unerwünscht sind. Es muss also andere Gründe geben. Zum Beispiel, dass der richtige Partner noch nicht gefunden ist. Auch mit 30 oder 35 nicht. Doch lieber redet man sich ein, dass eine Wohngemeinschaft doch viel unkomplizierter sei, als die Wohnung mit einem festen Partner zu teilen. Ach wirklich? Was ist mit dem dreckigen Geschirr des Mitbewohners, den lauten nächtlichen Geräuschen aus dem Zimmer nebenan, dem verschimmelten Essen im Kühlschrank...

Ist das super moderne, hippe, freie, verrückte, chaotische und ungebundene Leben wirklich so cool und locker, wie wir denken? Eigentlich verkrampfen wir uns doch bei dem Versuch, alles aus dem Leben herauszuholen, was nur irgendwie geht. Übertreiben wir es dabei nicht manchmal? Am Ende bleibt doch nur eine Leere, aber zufrieden sind wir nicht. Im Grunde müssen wir uns nicht ständig vornehmen, uns selbst zu verwirklichen. Das Leben formt uns, ob wir wollen oder nicht. Unsere ständigen Zweifel, Sehnsüchte und Wünsche halten uns wach und neugierig. Sie sind weder gut noch schlecht, vielmehr verwirrend. Es reicht sie zu achten und zu akzeptieren.

Gesellschaften ändern sich. Zum Glück. Und mit ihnen auch die Menschen, die darin leben. Überall ist die Rede von der „Krise des Mannes“. Und was ist mit der Krise der Frau? Wenn ein Geschlecht leidet, leidet doch auch das andere. Und außerdem: Die Menschen waren schon immer unsicher, verzweifelt und orientierungslos. Wann gab es schon mal ein Zeitalter, in dem jeder genau wusste, was er oder sie will? DAS wäre doch wirklich langweilig und eintönig.

Verdammt noch mal, Selbstverwirklichung ist anstrengend und hält mich vom Leben ab. 

Foto: SF

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